Die winzige Welt

Pssst! Sei mal ganz still! Ich möchte dir eine Geschichte erzählen, die noch nie ein Mensch gehört hat. Aber man muss dazu ganz leise sein.

Es gibt eine Welt, die wir Menschen gar nicht sehen können. Nicht, weil wir blind sind für sie. Wir schauen einfach nicht genug hin. Es ist eine ganz kleine Welt, überall um uns herum.

Ich selbst habe einmal ein Wesen aus dieser Welt getroffen, da war ich noch ganz klein und achtete viel mehr auf alles. Ich saß eines Tages auf dem Boden in meinem Kinderzimmer, ich war vielleicht fünf Jahre alt, ein bisschen jünger wie du jetzt, und spielte mit meinen Lego-Steinen. Ich hatte gerade ein Haus und ein Auto gebaut, da hörte ich plötzlich ein ganz leises, helles Geräusch. Ich blickte mich um und im Augenwinkel sah ich etwas Winziges hinter meinen Schrank huschen.

Schnell sprang ich auf und lief hinterher. Doch am Schrank angekommen sah ich nichts, und der Schrank war auch viel zu groß, um ihn zu verschieben. Ich drückte meine Backe an die Wand, um in den Spalt zwischen Wand und Schrank sehen zu können, doch dort war alles dunkel. Um besser sehen zu können, kramte ich aus meiner Spielzeugkiste eine Taschenlampe hervor.

Und wenn es nun einen Maus gewesen war? Was, wenn ich gleich hinter den Schrank leuchtete und mich schauten zwei Mauseaugen an? Mich schüttelte ein wenig bei dem Gedanken. Doch die Neugierde siegte und ich leuchtete vorsichtig hinter den Schrank. Da glitzerte doch etwas! Ich hielt die Luft an. Das Glitzern bewegte sich! Es kam auf mich zu!

Etwas polterte. Vor Schreck hatte ich meine Taschenlampe fallen gelassen und war rückwärts auf den Po geplumpst. Doch das war im Moment nicht wichtig. Ich kniff meine Augen zusammen und ging auf die Knie, um das kleine, glitzernde Wesen, das hinter meinem Schrank hervorlugte, besser sehen zu können. Ich beugte mich etwas vor, immer bedacht, vorsichtig zu atmen, damit ich das kleine Ding nicht wegpustete.

„Hallo!“, sagte es mit einer ganz leisen, zarten Stimme.
„Hallo!“, antwortete ich, fast genauso leise. „Wer bist du?“
„Ich bin Elindra, eine Fee“, antwortete sie.
„Oh, eine Fee! Ich dachte die gibt es nur in Büchern!“
Da lachte die kleine Fee und die Sonnenstrahlen tanzten auf ihren glitzernden Flügeln. Ihr goldenes Haar fiel ihr über die winzigen Schultern. Mit lieben, aber auch etwas kecken Augen sah sie mich an und sagte: „In Bücher verstecke ich mich manchmal auch, aber da ist es immer etwas dunkel. Ich mag das Licht gerne. Wer du bist weiß ich, Menschenkind. Ich habe dich hier schon oft gesehen, schon als du noch ein Baby warst und in deiner Wiege lagst. Schön, dass wir uns endlich einmal kennen lernen!“ Als sie das sagte, streckte sie mir ihre zarte Hand hin, ich hielt ihr meine entgegen und sie schüttelte die Spitze meines Zeigefingers zur Begrüßung.
„Aber warum habe ich dich nicht gesehen?“, fragte ich Elindra.
Sie lachte wieder ihr glockenhelles Lachen: „Ihr großen Menschen seht uns fast nie, es ist schon besonders, dass du mich entdeckt hast, du bist wirklich aufmerksam. Deshalb leben wir auch gerne hinter Schränken, damit ihr uns nicht so schnell einsaugt mit dem Staubsauger. Hast du Lust, mit mir zu spielen?“

Sie lief zu meinem Lego-Haus mit Auto hinüber und setzte sich gemütlich hinter das Steuer. Ich schob sie vorsichtig an und wir spielten noch eine ganze Weile zusammen. Als es Zeit war ins Bett zu gehen, trug ich sie vorsichtig zum Schrank. Elindra verabschiedete sich und ging in eine winzige Tür. Am nächsten Tag würden wir uns wiedersehen, das hatten wir vereinbart. In dieser Nacht träumte ich vom kleinen Reich der Feen und meiner neuen Freundin Elindra.