Acht Uhr – Die neuen Fußballschuhe

Nick Morgenblatt hatte es derweil weniger gemütlich und gewiss auch keine so gute Laune wie die Jugendgruppe am Kaminfeuer in der Herberge. Das Ziegenkind saß auf einem unbequemen Sitz in einem viel zu langsamen Bus und wollte nur schnell nach Hause. Ihm gegenüber saßen eine Mäusedame, die strickte und unentwegt ihre kleine Brille mit den runden Gläsern zurück auf ihre Nase schob, und ein seltsamer Mann, der seinen Hut auf sein Gesicht gelegt hatte und entweder eigenartig schnarchte oder sehr laut komisch kratzige Musik hörte. Herr Morgenblatt, Nicks Vater, saß neben ihm und lächelte beim Anblick seines griesgrämigen Böckleins leise in sich hinein. Nur zu gut erinnerte er sich daran, wie es ihm selbst einst so gegangen war.

Dabei hatte der Tag vielversprechend begonnen. Nick war mit der Sonne aufgestanden, obwohl es Samstag war. Blitzschnell waren sein Frühstücksbrot mit Bärlauch und das Glas Orangensaft in einem Bäuchlein verschwunden. Sogar den Teller wusch er eigenhändig ab. Kurz darauf hüpfte er schon aufgeregt und übers ganze Gesicht strahlend mit seiner gepackten Sporttasche an der Tür auf und ab.
„Lass uns gehen, Papa!“, rief er aufgeregt. „Heute ist mein erstes Fußballspiel!“
Er hatte sogar nagelneue Fußballschuhe dafür bekommen. Sie waren sein ganzer Stolz, blau mit gelben Streifen und Stollen. Seit Monaten träumte er von diesem ersten Spiel, wie er mit dem Ball auf das Tor zulief, ein klasse Tor schoss, von der jubelnden Menge und wie stolz sein Team und sein Vater sein würden.
„Ich werde spielen wie Sebastian Schuss!“, sagte er immer wieder.
Sebastian Schuss war einer der besten Fußballspieler, hatte in vielen großen Fußball-Clubs im Land gespielt und war sogar bei der Weltmeisterschaft gewesen. Jetzt war der große Bernhardiner schon etwas grau um die Schnauze und in Fußball-Rente, aber Nick hatte noch immer ein Poster von ihm über seinem Bett.
Herr Morgenblatt lächelte und sagte zu seinem Sohn: „Nick, dein Spiel beginnt doch erst heute Abend. So früh müssen wir noch nicht los.“

Die Zeit zog sich danach wie Kaugummi. „Hat ein Tag immer so viele Stunden?“, stöhnte Nick, während er kopfüber vom Sessel im Wohnzimmer hing und die Uhr durch pure Gedankenkraft dazu bringen wollte, die Zeit schneller vergehen zu lassen. Vom Mittagessen bekam er schon kaum mehr einen Bissen herunter und als sie endlich zur Bushaltestelle gehen konnten, war ihm schon ganz schlecht vor Aufregung. Sie fuhren mit dem Landbus von Möhrenfeld nach Ochsenbach. Nick sprang als erster aus dem Bus, kaum dass die Türen einen Spalt breit auf waren, und wollte seinen Vater weiter in Richtung Stadion ziehen. Doch Herr Morgenblatt hatte etwas entdeckt und blieb stehen.
„Was ist los?“, fragte das Ziegenkind ungeduldig.
„Hier steht eine Reisetasche“, sagte sein Vater und ging auf die Bushaltestelle zu. Da weit und breit niemand mehr zu sehen war, beschloss er, die Reisetasche zum Fundamt zu bringen. „Hoffen wir, dass es noch auf hat“, murmelte er.

Seinem Sohn passte das ganz und gar nicht: „Wir verpassen noch das Spiel!“, rief er und wollte seinen Vater in die andere Richtung ziehen. Doch Herr Morgenblatt ging zielstrebig auf die Polizeistation von Ochsenbach zu.

Tatsächlich war die Tür noch nicht abgeschlossen. Eine freundliche Polizistin begrüßte die beiden Ziegen: „Guten Tag, ich bin Olivia Ordnung, kann ich Ihnen helfen?“
„Ja, sehr gerne“, antwortete Herr Morgenblatt freundlich. „Ich habe diese Reisetasche bei der Bushaltestelle gefunden. Kann ich sie Ihnen geben, damit sie der Besitzer zurückbekommen?“
„Aber natürlich“, lächelte die Polizistin freundlich.
Was denkt ihr, wurde die Tasche dem Besitzer zurückgegeben? Aber klar, die Tasche war das Gepäck von Mäuschen Mia!

Nick Morgenblatt war nun nicht mehr zu halten. So schnell er konnte galloppierte er zum Stadion und schaffte es noch gerade rechtzeitig zu seiner Mannschaft in den Umkleideraum. Schnell schlüpfte er in das Trikot, die Sporthose und die nagelneuen Fußballschuhe und schon lief die Mannschaft auf das Spielfeld. Nick flitzte hin und her, immer den Ball im Blick. Als jüngster Stürmer des TSV Hasenweiler wollte er allen beweisen, dass er genauso schnell rennen und Tore schießen konnte wie die älteren Spieler. In der Halbzeitpause stand es 1:1. Der Trainer Bernhard Wolf schwor die Mannschaft noch einmal ein: „Ihr macht das gut, aber ich weiß, dass ihr noch mehr drauf habt! Spielt so, wie wir es trainiert haben!“

Als Nick wieder auf das Spielfeld lief, sah er zu seinem Vater auf der Tribüne hinüber. Herr Morgenblatt winkte zu ihm hinüber und hielt die Kamera in der Hand, mit der er das erste Spiel seines Sohnes festhalten wollte. Nick atmete tief ein und nahm sich vor, seinen Vater ganz stolz zu machen. Dann kam schon der Anpfiff zur zweiten Halbzeit. Schnell schoss die gegnerische Mannschaft das Tor zum 2:1. Nick strengte sich an, lief weite Strecken und wedelte mit den Armen, um den Ball zu bekommen. Kurz vor Schluss spielte sein Teamkamerad Tobi Rüssel ihm den Ball zu. Sein Herz klopfte wie wild. Wieselflink lief er auf das gegnerische Tor zu, im Zickzack um die gegnerischen Spieler herum. Er hörte die Zuschauer immer lauter jubeln, sah das Tor, holte tief Luft, schoss und… der Ball flog knapp am Tor vorbei. Mit hängenden Schultern stand Nick da und wusste gar nicht, was er jetzt tun sollte. So hatte er sich das nicht vorgestellt.

Bald darauf kam der Abpfiff. Mit hängenden Köpfen trottete die Mannschaft des TSV Hasenweiler vom Spielfeld. Nick biss sich ganz fest auf die Lippen, um nicht loszuweinen. Nach dem Umziehen brachte er kaum ein Wort zum Abschied heraus und ging schnell zu seinem Vater. Herr Morgenblatt wusste genau, dass sein Sohn jetzt nicht viel reden wollte und nahm ihn einfach in den Arm.

Nun saßen sie also wieder im Bus, doch diesmal ohne Aufregung und Freude, dafür mit einer Regenwolke über Nicks Kopf und zwei anderen Passagieren ihnen gegenüber.
„Du hast gut gespielt“, versuchte Herr Morgenblatt vorsichtig, seinen Sohn aufzumuntern.
„Nein“, sagte Nick mit Grabesstimme. „Ich hab daneben geschossen. Ich bin einfach kein guter Fußballspieler.“

Plötzlich sagte eine tiefe Stimme: „Ich finde auch, dass du gut gespielt hast!“ Der seltsame Mitreisende nahm den Hut vom Gesicht. Erst jetzt fiel Nick auf, dass das knarzende Geräusch aufgehört hatte. Als er erkannte, wer da mit ihnen im Bus saß, fiel dem jungen Zicklein der Unterkiefer herunter.
„Sie sind doch…“, stotterte er.
„Sebastian Schuss“, ergänzte der nicht ganz so fremde Bernhardiner und lüpfte den Hut zum Gruß.
Nick konnte es nicht glauben. Sein großes Idol saß ihm direkt gegenüber! Nick war so aufgeregt und brachte keinen Ton heraus.
Dafür sprach Sebastian Schuss weiter: „Wie du um die Gegner herumgedribbelt bist war große Klasse! Du hast viel Potenzial!“
Nick senkte wieder den Kopf und sagte: „Aber ich hab das Tor verschossen…“
Da lachte der Bernhardiner laut und tief: „Ha, weißt du, das habe ich bei meinem ersten Spiel auch! Genau so wie du heute! Trainier einfach fleißig weiter Tore schießen, dann wirst du vielleicht auch irgendwann bei der WM spielen.“

Nick war baff. Er wusste fast alles über Sebastian Schuss, aber das war ihm neu. So langsam freute er sich auch wieder ein bisschen und als Herr Schuss auch noch seine neuen Fußballschuhe signierte, breitete sich ein breites Grinsen über seinem Gesicht aus. Der schlimmste Tag seines Lebens war zu seinem besten geworden. Er nahm sich fest vor, fleißig zu trainieren, und seine neuen Schuhe mit dem Autogramm von Sebastian Schuss würden seine Glücksbringer sein.